Die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Monate, des letzten Jahres machen vor unseren Ordinationstüren nicht halt.
Wir sind mit neuen Patienten konfrontiert, eine Reihe davon stellt unser Kommunikationsvermögen auf eine harte Probe: Es gibt keine gemeinsame Sprache (zumindest keine, die sich in Wörtern ausdrückt), Gesten sind schwer zu interpretieren, die Ängste andere, die Schamschranken auch. Auch das Rollenverständnis. Wen darf ich denn nun, wo angreifen bzw. wie? Annahmen und Vermutungen auf allen Seiten, mal richtige, mal falsche. Die Sorge falsch verstanden oder abgelehnt zu werden auf der einen, der Patientenseite, und auf der anderen, der ärztlichen Seite, die Sorge falsch verstanden zu werden oder ablehnend zu wirken, wenn z.B. Wünsche nicht erfüllt werden – am Ende sogar „ausländerfeindlich“ – meiner Meinung nach ohnehin ein absurdes Wort. Was heißt schon „Ausländer“? Und: Was hätten denn alle „Ausländer“ gemeinsam? Was für eine sonderbare Gemeinschaft sollte das wohl sein, und was haben Pauschalierungen in der auf individuellen Zugang ausgerichteten Allgemeinpraxis überhaupt für einen Stellenwert? Unsicherheit auf allen Seiten.
Nicht nur als Patienten sind wir mit nunmehr in beträchtlicher, ungewohnter Zahl zugewanderter Menschen aus entfernten Regionen konfrontiert, sondern auch, potenziell zumindest, mit MitarbeiterInnen und KollegInnen. Gespräche darüber unter KollegInnen kreisen erstaunlicherweise fast ausschließlich um ein Stück Stoff: das Kopftuch. Ausgerechnet ein Kleidungsstück, und zwar ein weibliches Kleidungsstück, ein Kleidungsstück, das das weibliche Haar verbirgt, ist ein echter Aufreger. Die Argumente in persönlichen Gesprächen reichen von „mir gefällt das nicht“ bis zu „das ist ein Kommunikationshindernis“ und „meine Patienten könnten das nicht wollen“.
Im Ort, in dem ich lebe, ist eine afghanische Familie zugezogen, die einzige Tochter unter 5 Söhnen ist 17, quietschlebendig, wissbegierig und ehrgeizig. Sie geht schon aufs Gymnasium, spricht recht ordentlich deutsch – und sie möchte Medizin studieren. Im vergangenen Sommer bat sie mich, sich in meiner sehr ländlichen Praxis nützlich machen zu dürfen, im oberen Waldviertel, das nicht gerade als Hort des fortschrittlichen Liberalismus gilt. Ich kann nicht behaupten, dass ich keine Zweifel und Befürchtungen hatte – vor allem hinsichtlich meiner Patienten. Mit meinen Mitarbeiterinnen konnte ich ja reden, und selbst ich hatte ohne emotionale Probleme über 6 Monate während eines Einsatzes in Pakistan ein (ziemlich hübsches) Kopftuch getragen.
Erwartungsgemäß gab es ein paar „Raunzer“ im Wartezimmer, selbstverständlich spielten die nunmehr schon recht verfestigten Assoziationen mit dem muslimischen Kopftuch eine Rolle: Es dominiert (bzw. blockiert) zumindest anfangs einen guten Teil der Wahrnehmung der Person. Mehr als ein Halbbart, mehr als jede Art einer männlichen Kopfbedeckung, und weit mehr als jede andere, ebenfalls weltanschaulich motivierte Haartracht, von der Matte über Grellfarben oder Dreadlocks bis zum Irokesen.
Meine Erfahrung zeigt aber auch, dass die Mehrzahl der Patienten offen, neugierig, freundlich reagierten. Übrigens kamen die erwähnten „Raunzer“ in diesem Fall besonders oft wieder, und waren schlussendlich hingerissen von der Freundlichkeit und Zuwendung des Mädchens, das sie, zumindest auch, als junge Frau wahrnehmen konnten, nicht nur als Unterbau zu einem Kopftuch.
Wir sind als Hausärzte sensibilisiert hinter die Fassade zu blicken, Individuen individuell zu sehen, zu verstehen und zu akzeptieren in ihrem So-Sein, unabhängig von Weltanschauungen, Werteverständnis, sozio-kulturellem Hintergrund.
Auf diese Weise können wir vielleicht einen Beitrag dazu leisten, unserer Gesellschaft Offenheit, Toleranz und Liberalität zu bewahren.