Alkohol ist in Österreich und in weiten Teilen Europas allgegenwärtiger Bestandteil des gesellschaftlichen Alltags und bildet einen Teil unserer Kultur. Die Grenzen zwischen Genuss, Missbrauch und Abhängigkeit sind fließend und oftmals nur schwer wahrnehmbar. Entwickelt sich jedoch ein problematischer Alkoholkonsum, kann dies schwerwiegende Konsequenzen für das Individuum und dessen Umfeld haben.
Dass Alkoholkrankheit kein Randphänomen darstellt, belegen zahlreiche Studien und aktuelle epidemiologische Berechnungen. Alkohol ist neben Nikotin auch im Vergleich zu illegalen Suchtmitteln die Substanz mit der größten Krankheitslast („Burden of Disease“) (Degenhardt et al. 2012). Schätzungen für das Jahr 2002 zeigen, dass in Europa Alkoholkonsum für den Verlust von ca. zehn Millionen DALY („disability-adjusted life years“) verantwortlich ist (Rehm et al. 2006). Aktuelle epidemiologische Zahlen zeigen, dass Österreich hier keine Ausnahme darstellt. Im Querschnitt sind bis zu 5% der österreichischen Bevölkerung ab dem 16. Lebensjahr alkoholabhängig, weitere 12% konsumieren Alkohol in riskanter Weise. Männer sind mehr als doppelt so oft betroffen wie Frauen – 14% der Männer und 6% der Frauen erkranken im Laufe ihres Lebens an Alkoholismus (Uhl et al. 2009, S 14ff). In Wien allein gelten zwischen 35.000 und 75.000 Menschen als alkoholabhängig, weitere 135.000 bis 175.000 weisen einen problematischen Konsum auf und sind demnach gefährdet, abhängig zu werden. Mit dem herkömmlichen System der Alkoholbehandlung wurden in Wien bisher nur 6% der Betroffenen über qualifizierte Betreuungsangebote erreicht.
Alkohol 2020
Vor diesem Hintergrund und als Reaktion auf die mit der Alkoholkrankheit verbundenen gesellschaftlichen Herausforderungen wurde 2014 im Rahmen der Gesundheitsreform das Projekt „Alkohol 2020“ ins Leben gerufen, das die erstmalige Zusammenarbeit der Pensionsversicherungsanstalt (PVA), der Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK) und der Stadt Wien in diesem Kontext begründet. Mit dem Ziel, die Versorgung von Menschen mit einer Alkoholerkrankung in Wien zu verbessern und die Betroffenen nachhaltiger in das gesellschaftliche Leben zu integrieren, wurde ein Konzept entwickelt, das die beteiligten Experten miteinander vernetzt, bedarfs- und zielgruppenorientiert ausgerichtet ist und ambulante, stationäre, rehabilitative und integrationsfördernde Angebote aufeinander abstimmt.
„Best Point of Service“
Das Projekt „Alkohol 2020“ zeichnet sich dadurch aus, dass PatientInnen am Best Point of Service betreut werden. In einem integrierten Betreuungssystem werden die Angebote des niedergelassenen Bereichs, des klinischen Bereichs, der spezialisierten ambulanten und stationären Suchthilfeeinrichtungen und des allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystems aufeinander abgestimmt. Ein integriertes Case- und Nahtstellenmanagement ist für die intensive Vernetzung und Kooperation von allen beteiligten Einrichtungen und Angeboten verantwortlich und ermöglicht so eine sektorenübergreifende Behandlung. Zudem verfolgt das Projekt einen ganzheitlichen Zugang. Arbeitsleben, Wohnsituation und familiäres Umfeld werden, wie medizinische/therapeutische Faktoren, von Anfang an mitberücksichtigt. So sind zum Beispiel Möglichkeiten zur alkoholfreien Freizeitgestaltung und die Organisation von Kinder- und Haustierbetreuung ebenfalls Teil des Betreuungskonzepts.
Der niedergelassene Bereich
Der niedergelassene Bereich spielt eine wesentliche Rolle vor allem in der Früherkennung, Kurzintervention und Nachbetreuung von Menschen mit einer Alkoholerkrankung. Der/die niedergelassene AllgemeinmedizinerIn ist oftmals die erste Anlaufstelle bei gesundheitlichen Beschwerden und ist so in der Lage, eine zugrundeliegende Alkoholerkrankung frühzeitig zu erkennen und zu intervenieren. Darüber hinaus übernehmen Hausärztinnen/Hausärzte eine wichtige Funktion in der langjährigen Nachbetreuung von alkoholkranken Menschen nach Abschluss der spezialisierten Maßnahmen.
Der klinische Bereich
Der klinische Bereich, der sich auf die Rolle von vollausgestatteten Krankenhäusern bezieht, ist für die Versorgung von alkoholkranken Menschen verantwortlich, wenn aufgrund des Schweregrads der Alkoholerkrankung oder anderer somatischer und psychiatrischer Erkrankungen die Versorgung in einem vollausgestatteten Krankenhaus notwendig ist.
Der spezialisierte Bereich
Der spezialisierte Bereich mit den Einrichtungen des Sucht- und Drogenhilfenetzwerks (SDHN) übernimmt eine Schlüsselrolle in der suchtspezifischen Betreuung inkl. Behandlung und Rehabilitation von alkoholkranken Menschen. Um der Lebensrealität vieler Berufstätigen bzw. Menschen mit Familien besser entsprechen zu können, wurde zusätzlich zu den stationären Angeboten ein umfassendes ambulantes Versorgungsangebot geschaffen.
Integriertes Versorgungssystem
Im Zentrum der integrierten Versorgung stehen sogenannte „regionale Kompetenzzentren“, die als direkte Anlaufstelle für alkoholkranke Menschen und als Drehscheibe zwischen dem niedergelassenen und dem klinischen Bereich, den spezialisierten Einrichtungen des SDHN und dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem fungieren. Somit ist ein besserer Zugang zu der auf den Bedarf des/der PatientIn ausgerichteten Versorgung gewährleistet. Hauptaufgabe der regionalen Kompetenzzentren ist zunächst die Durchführung der „Abklärungsphase“. Während der Abklärungsphase wird von einem multiprofessionellen Team aus Ärzten, Psychologen und Sozialarbeitern mittels einer „multidimensionalen Diagnostik“ (MD) die bio-psycho-soziale Ausgangslage der PatientInnen erhoben und Bedarf und Motivation des/der PatientIn ermittelt.
Anschließend wird auf Basis der Ergebnisse aus der MD und im Konsens mit dem/der PatientIn ein Maßnahmenplan erstellt. Diese werden jeweils patientenorientiert aus definierten Modulen (einzeln beschriebene Leistungsbündel auf Basis von definierten Qualitätsstandards) zusammengestellt und können sowohl ambulante als auch stationäre Module beinhalten. Sie decken den kompletten Betreuungsbedarf (somatisch/psychisch/sozial) sowohl im Hinblick auf die akute Krankenversorgung als auch auf die medizinische, soziale und berufliche Rehabilitation des/der jeweiligen PatientIn ab und ermöglicht somit ein maximal individualisiertes therapeutisches Vorgehen.
Ändert sich im Laufe der Betreuung der Bedarf des Patienten kann der Maßnahmenplan entsprechend angepasst werden. Für die Patienten bedeutet das vor allem Betreuungssicherheit: Der Betreuungsplan ist langfristig geplant, Behandlungs- und Rehabilitationsplätze stehen bereit, und die Finanzierung ist zugesagt. Das regionale Kompetenzzentrum fungiert als zentrale Drehscheibe und kümmert sich im Rahmen eines umfassenden Case Managements um alle Aspekte der Versorgung, von der Erstellung der individuellen Maßnahmenpläne bis hin zur Bewilligung des Antrags, die die formelle Prüfung der Anspruchsberechtigung, die inhaltliche Beurteilung des erstellten Plans und die Finanzierungszusage aller Kostenträger beinhaltet.
Und wie kann man sich das in der Praxis vorstellen?
Anhand eines Fallbeispiels wird das integrierte Versorgungsystem „Alkohol 2020“ ersichtlich: Herr W. ist 53 Jahre alt und wies in den vergangenen 30 Jahren immer wieder problembehaftete Alkoholkonsummuster auf. Nach einer Scheidung und insbesondere nach einer Krebsdiagnose im Jahr 2010 stieg sein Alkoholkonsum sehr stark an. Herr W. hatte in der Vergangenheit bereits einen stationären Aufenthalt sowie eine ambulante Behandlung seiner Alkoholkrankheit in Anspruch genommen, empfand diese Maßnahmen aber im Nachhinein betrachtet als wenig hilfreich.
Von seiner Hausärztin hat er vom Projekt „Alkohol 2020“ erfahren und wurde an das regionale Kompetenzzentrum verwiesen. Nach einer umfassenden Abklärung wurde mit dem Patienten eine ambulante Therapie beim Verein p.a.s.s. vereinbart. Die medizinischen und psychotherapeutischen Angebote nahm Herr W. sehr gut an, es konnte damit begonnen werden, die Gewalterfahrungen, die Herr W. im Kindesalter gemacht hat, aufzuarbeiten. Durch den guten Therapieverlauf konnte Herr W. vor einigen Wochen seinen Beruf als Altenpfleger, den er seit 2010 nicht mehr ausüben konnte, wieder aufnehmen.
Wie kann ich mich als niedergelasseneR Arzt/Ärztin am Projekt Alkohol 2020 beteiligen?
Wie bereits erwähnt, übernimmt der niedergelassene Bereich einen wesentlichen Part vor allem in der Früherkennung, Kurzintervention und Nachbetreuung von Menschen mit einer Alkoholerkrankung. Daher ist die verstärkte Einbindung des niedergelassenen Bereichs im Rahmen von Alkohol 2020 integraler Bestandteil des Projekts. So besteht die Möglichkeit, Patienten, die einen risikoreichen Alkoholkonsum vorweisen, über die Angebote von Alkohol 2020 zu informieren und bei Interesse den Patienten an das regionale Kompetenzzentrum zuzuweisen. Im Laufe des Maßnahmenplans bleibt der behandelnde Arzt neben dem Case Manager im regionalen Kompetenzzentrum zentrale Ansprechperson des Patienten. Zudem spielt der Hausarzt eine wichtige Rolle in der Nachbetreuung insbesondere nach einem stationären Aufenthalt.
Alkohol 2020 – das Pilotprojekt
Die erste Pilotphase des Projekts „Alkohol 2020“, die am 1. Oktober 2014 startete, war höchst erfolgreich. Rund 450 PatientInnen konnten in dieser Phase im Projekt „Alkohol 2020“ betreut werden, weniger als 20% der Patienten haben die Betreuung abgebrochen. Daher wurde von den Vertragspartnern, Stadt Wien, WGKK und PVA beschlossen, das Pilotprojekt im Rahmen einer zweiten Phase bis mindestens Ende 2018 zu verlängern.
Mehr Kapazitäten, mehr Anspruchsberechtigte
In der zweiten Phase wird die Anzahl jener Menschen, die in das Projekt aufgenommen werden können, deutlich erhöht. Bis Ende 2018 können rund 3.200 alkoholkranke Menschen die Angebote in Anspruch nehmen. Zudem wurde der Kreis jener Personen, die Zugang zum Projekt haben, wesentlich vergrößert. Neben den Versicherten der WGKK sind auch jene Wiener anspruchsberechtigt, die bei der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft (SVA), der Sozialversicherungsanstalt der Bauern (SVB), der Versicherungsanstalt für Eisenbahnen und Bergbau (VAEB), der Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter (BVA), der Krankenfürsorgeanstalt der Bediensteten der Stadt Wien (KFA) oder einer der Betriebskrankenkassen versichert sind, sofern sie noch keine Alterspension beziehen. Zudem werden Serviceleistungen im regionalen Kompetenzzentrum weiter ausgebaut und intensiviert. Längere Öffnungszeiten und ein intensiveres Case Management gehören genauso dazu wie Maßnahmen zur Erhaltung bzw. Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit.
Quellen
- Degenhardt L, Hall W, Extent of illicit drug use and dependence, and their contribution to the global burden of disease. Lancet 2012; 379:55–70 Link
- Haltmayer H, Reuvers L, „Alkohol 2020“: Ein integriertes Versorgungssystem für Menschen mit einer Alkoholerkrankung in Wien. Suchtmed 2015; 17(2):47–53 Link
- Rehm J, Taylor B, Patra J, Addiction 2006; 101(8):1086–95 Link
- Uhl A, Bachmayer S, Kobrna U, Puhm A, Kopf N, Beiglböck W, Eisenbach-Stangl I, Preinsberger W, Musalek M, Handbuch Alkohol – Österreich. Zahlen. Daten. Fakten. Trends (3. Aufl.), Bundesministerium für Gesundheit, Wien 2009 Link