1997 habe ich als Fast-noch-Jungärztin meinen ersten WONCA-Europe-Kongress besucht: Seit vier Jahren in der eigenen Praxis, also sozusagen „aus dem Gröbsten raus“, und mit viel Hunger nach Austausch.
Damals war ich überwältigt von einem herrlichen Gefühl von Gemeinschaftlichkeit und Kollegialität, von zahllosen Anregungen und Ideen – und von der Erkenntnis der Ähnlichkeit unserer Probleme und Erfahrungen, weitgehend unabhängig vom jeweiligen Gesundheitssystem.
Nun bin ich eine alte Häsin geworden, mit einigen Nach- und vielen Vorteilen, habe eine ganze Reihe von WONCA-Kongressen in vielen Ländern erlebt, zahllose Diskussionen geführt und Erfahrungen gemacht und bedacht. Nach wie vor freue ich mich über den wunderbaren, warmen, lebendigen Austausch, brillante, spannende Vorträge, über die mittlerweile gewonnenen Freunde aus aller Herren Länder und über die Möglichkeit, selbst präsentierend teilnehmen zu dürfen.
Die Unterschiede sehe ich nun aber deutlicher und klarer.
Wir haben zwar alle das gemeinsame Problem der Unterschätzung – durch Spezialistenkollegen, Entscheidungsträger und Gesundheitspolitik. Wir ächzen unter der Last des Zeitmangels, hoher Ansprüche, beschränkter Ressourcen, Arbeitsumfanges und -dichte. Wir sehen praktisch ausnahmslos die zunehmende Schwierigkeit, junge Kollegen für unseren Beruf zu gewinnen: in allen Ländern, auch und gerade in denen mit starker „Primary Care“ (PC).
Und doch sind die Unterschiede beträchtlich: Die Kollegen der meisten Länder ringen mit der Terminvergabe – Wartezeiten für einen Termin beim Hausarzt liegen (auch in Dänemark und dem Vereinigten Königreich, den viel gelobten Ländern der PC) bei zwei bis drei Wochen (!!!). Patienten müssen sich um einen Termin beim Arzt statt bei der Krankenschwester streiten, kontinuierliche Arzt-Patienten-Beziehungen sind schwer aufrechtzuerhalten, die Kooperation mit Spezialisten ist schwierig bis kaum vorhanden, Termine bei diesen auch für den Hausarzt oft kaum zu bekommen. Die Fragmentierung des Gesundheitswesens und der Patienten schreitet voran und belastet vor allem Letztere: Die Zuständigkeiten teilen sich nach Problemstellung auf (der Diabetespatient zur Diabetesschwester, die mentale Erkrankung zur „Mental health“-Betreuung, die banalen Infekte zur Nurse usw.). Den Blick auf den ganzen Menschen wird zu gewinnen immer schwieriger: Die Sehnsucht nach Rückgewinnung der „Patient-centeredness“ und Kontinuität war in vielen Vorträgen deutlich artikuliert. Eindrucksvoll dazu vor allem der Bericht einer schwedischen Patientin, die diese Tugenden mit hoher, bewegender Dringlichkeit einforderte.
In vielen österreichischen Hausarztpraxen sind genau diese gelebte Wirklichkeit: Termine beim Hausarzt sind meist am selben Tag möglich, Kontakt mit ihm selbst die Normalität. Hausarztpraxen setzen sich oft multiprofessionell aus Ärzten, Krankenschwester und Verwaltungsangestelltem zusammen. Vielen von uns ist es möglich, Termine bei Spezialisten im erforderlichen Zeitfenster zu „organisieren“, ebenso wie den Zugang zu Psycho-, Physio-, oder z.B. Ergotherapie. Kontinuität über Jahre und Jahrzehnte ist üblich, und die Kooperation mit niedergelassenen Spezialisten und umliegenden Krankenhäusern häufig geübte Praxis.
Innerhalb unseres Gesundheitssystems wird exzellente Qualität geboten – genau die, von der unsere Kollegen auf internationaler Ebene träumen. Diese Qualität ist möglich – aber sie muss permanent erkämpft werden, von jedem und jeder Einzelnen, und immer wieder aufs Neue, gegen Widerstand und Widerstände.
Unser System weigert sich beharrlich, diese Qualität zu systematisieren. Statt zu analysieren, worin sie besteht und wie sie entsteht, wird mit viel Geld und Einsatz versucht, die Fehler anderer Länder zu wiederholen – mit der Begründung, dass diese Qualität nicht System ist: Als hätten daran wir Ärzte Schuld, und nicht die Gesundheitspolitik!
Lasst uns doch nicht länger in guter österreichischer Manier die Köpfe einziehen, lassen wir uns nicht länger von abstrakten Ratings einschüchtern und den Lemmingen hinterherlaufen! Gehen wir doch endlich unseren eigenen Weg: mit Stolz auf das, was wir können und haben, mit Offenheit gegenüber dem, was uns fehlt, mit Intelligenz, ein bisschen Mut und viel Kreativität zu neuen Ufern.
Dr. Susanne Rabady
Ärztin für Allgemeinmedizin,
Windigsteig